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Was wir nicht sehen

Wenn wir Menschen begegnen, zeigen sie selten ehrlich, wie es in ihnen aussieht. Von keinem kennen wir zunächst seine Geschichte. Dieser Brief wurde uns im Rahmen eines Sterbebegleitungskurses vorgelesen. Nicht nur Sterbende bedürfen unseres tiefen Einfühlens. Jeder Mensch sehnt sich danach.

Brief eines unbekannten Studenten

„Bitte höre, was ich nicht sage! Lass dich von mir nicht narren! Lass dich nicht durch mein Gesicht täuschen. Denn ich trage tausend Masken. Masken, die ich fürchte, abzulegen. Und keine davon bin ich. So zu tun, als ob, ist eine Kunst, die mir zur zweiten Natur wurde. Aber lass dich um Gottes willen dadurch nicht täuschen.

Ich mache den Eindruck, als sei ich umgänglich, als sei alles sonnig und heiter in mir, innen wie außen. Als sei mein Wesen Vertrauen und Kühle, so als könne ich über alles bestimmen und brauchte niemanden. Aber glaub mir nicht! Mein Äußeres mag sicher erscheinen, aber es ist eine Maske. Darunter ist nichts Entsprechendes. Darunter bin ich, wie ich wirklich bin: verwirrt, in Angst und alleine.

Aber ich verberge das, weil ich nicht möchte, dass es irgendjemand merkt. Beim bloßen Gedanken an meine Schwächen bekomme ich Panik und fürchte mich davor, mich anderen überhaupt auszusetzen. Gerade deshalb erfinde ich verzweifelt Masken, hinter denen ich mich verbergen kann: eine lässige, kluge Fassade, die mir hilft, etwas vorzutäuschen., die mich vor dem wissenden Blick sichert, der mich erkennen würde. Dabei wäre gerade dieser Blick meine Rettung. Und ich weiß es. Wenn er verbunden wäre mit Angenommensein, mit Liebe. Das würde mir Sicherheit geben, die ich mir selbst nicht geben kann, die Sicherheit, dass ich etwas wert bin.

Aber das sage ich dir nicht. Ich wage es nicht. Ich habe Angst davor. Ich habe Angst, dass dein Blick nicht von Annahme und Liebe begleitet wird. Ich fürchte, du wirst gering von mir denken und über mich lachen – und dein Lachen würde mich umbringen. Ich habe Angst, dass ich tief drinnen in mir selbst nichts bin und dass du das siehst und mich abweisen wirst.

So spiele ich mein verzweifeltes Spiel: eine sichere Fassade außen und ein zitterndes Kind innen. Ich rede daher im gängigen Ton oberflächliches Geschwätzes. Ich erzähle dir alles, was in Wirklichkeit nichtssagen ist, und nichts von alledem, was wirklich ist, was in mir schreit. Deshalb lass dich nicht täuschen von dem, was ich aus Gewohnheit daherrede. Höre sorgfältig hin und versuche zu hören, was ich nicht sage –  was ich gerne sagen möchte, was ich um des Überlebens willen rede und was ich nicht sagen kann.

Ich hasse Versteckspielen. Ehrlich! Ich verabscheue dieses oberflächliche Spiel, das ich da aufführe – ein unechtes Spiel. Ich möchte wirklich echt und spontan sein können, einfach ich selbst, aber du musst mir helfen. Du musst eine Hand ausstrecken, selbst wenn es gerade das letzte zu sein scheint, das ich mir wünsche. Jedesmal, wenn du freundlich bist und mir Mut machst, wenn du mich zu verstehen suchst, weil du dich wirklich um mich sorgst, bekommt mein Herz Flügel – sehr kleine, brüchige Schwingen, aber Flügel.

Dein Mitgefühl und die Kraft deines Verstehens machen mich lebendig. Ich möchte, dass du das weißt, wie wichtig du für mich bist, wie sehr du aus mir den Menschen machen kannst, der ich wirklich bin – wenn du willst. Ich wünschte, du wolltest es. Du allein kannst die Wand niederreißen, hinter der ich mich ängstige. Du allein kannst mir die Maske abnehmen und mich aus meiner Schattenwelt befreien, aus Angst und Unsicherheit, aus meiner Einsamkeit. Übersieh mich nicht, bitte, übergeh mich nicht.

Es wird nicht leicht für dich sein. Die lang andauernde Überzeugung, wertlos zu sein, schafft dicke Schutzmauern. Je näher du mir kommst, desto blinder schlage ich zurück. Ich wehre mich gegen das, wonach ich schreie. Meine Hoffnung liegt darin, dass Liebe stärker ist, als jeder Schutzwall. Versuche diese Mauern einzureißen, mit sicheren, behutsamen Händen – das Kind in mir ist verletzlich.

Wer ich bin, fragst du? Ich bin jemand, den du sehr gut kennst: Ich bin jedermann, den du triffst – jeder Mann und jede Frau, die dir begegnen.“

In Anteilnahme am tragischen Tod eines kleinen Kindes schrieb Sarah Connor dieses tief berührende Lied.

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