Berührung ist heilsam
Jede Mutter weiß es, wenn ein Kind sich weh getan hat. Instinktiv wird sie ihre Hände auf die schmerzende Stelle legen, vielleicht mit einem „Heile heile Segen.“ Ein weinendes Kind wird in den Arm genommen. Auch wir Erwachsenen spenden Trost oft mit einer Berührung. Alten Menschen tut Berührung besonders gut.
Wie notwendig Berührung ist, wurde uns allen bewusst, in der Zeit, als es kaum möglich war. Corona traf insbesondere die alten und sterbenden Menschen hart. Noch heute höre ich Geschichten, wenn Menschen sich nicht mehr verabschieden konnten von ihrem Angehörigen. So normal unser Alltag auch wieder geworden ist, es ist gut, sich bewusst zu machen, dass eine Berührung oftmals mehr gut tut als Worte.
Jesus Christus war ein Berührer. Er predigte nicht nur, er legte Hände auf, berührte, insbesondere die „Unberührbaren“, heilte, wusch Füße und ließ sich berühren, sogar seine Wunden. Wir wissen, wem er sich zuwandte. Nicht den Vorzeigemenschen oder perfekt Gläubigen. Er berührte die Not, die Schuld, die Angst, das Leid, die Krankheit, das Ausgestoßensein, die Verletzung, das Schuldigfühlen, den Zweifel.
Eine berührende Geschichte
Wir dürfen nicht nur berühren, sondern auch berührbar sein. Dies kann auch auf anderer Ebene geschehen. Nicht jeden umarmen wir gleich. Mitgefühl ist auch eine Berührung. Eine Freundin, ungläubig, aus guten Gründen für sie, erzählte mir von einer Reise nach Israel, vor vielen Jahren. Sie fuhr mit ihrem Orchester dorthin. Im Vorfeld hatte sie die Idee, an der Gedenkstätte Yad Vashem die Titelmelodie aus dem Film „Schindlers Liste“ aufzuführen. Gegen Vorbehalte ihres Vorgesetzten setzte sie ihr Vorhaben um. Dort angekommen, fingen sie einfach an, in einer Nische zu spielen. Sie wollten sich nicht zur Schau stellen. Menschen kamen vorbei, Isreali oder anderer Nationalitäten. Viele von ihnen weinten. Mit ihnen auch die jungen deutschen Mitglieder ihres Orchesters. Ohne den Einsatz von Sprache wurde verstanden. Wieviel Schmerz da immer noch ist über all das, was den Juden angetan worden war. Dieses Trauma für ein ganzes Volk ist noch nicht geheilt. In solchen Momenten geschieht jedoch ein kleines Stück Heilung. Indem nicht weggeschaut wird. Sondern wie in diesem Fall einfach nur mit Musik Mitgefühl und Anteilnahme gezeigt wird. Einen Moment von „Wir sehen euch“. Es bedarf vieler solcher Momente.
Heilende Begegnungen
Wenn man den „Brief eines unbekannten Studenten“ liest, darf uns etwas bewusst werden. Wie wenig ahnen wir oft, wer uns da eigentlich gegenüber steht. Dass hinter einer fröhlichen Miene vielleicht ganz anderes verborgen ist. Hinter aggressiven Verhalten vielleicht tiefste Sorgen und Nöte. Wie sehr können Menschen, die sich irgendwann das Leben nehmen, bis zuletzt ihre Fassade aufrechterhalten. Das ist ein Armutszeugnis für uns Menschen. Wir dürfen lernen, hinzuschauen. Mal einen Moment stehenzubleiben. Wirklich fühlen. Innerlich bereit sein, dass Menschen sich uns öffnen können. Das kann überall geschehen.
Seelische Wunden können heilen. Auch sehr tiefe, nach traumatischen Erlebnissen. Die Wunden wurden durch Menschen geschlagen. Und Menschen können andersherum dazu beitragen, dass sie heilen können. Wenn Menschen erfahren, dass es etwas anderes gibt, als sie selbst erlebt haben.Wenn wir solche Geschichten, wie sie meine Freundin erzählt hat, dort umsetzen, wo wir spüren, dass es gebraucht wird. Und es wird besonders dort gebraucht, wo Menschen tiefstes Leid und Schmerz erfahren haben. Wir können und dürfen mit ihnen eine neue Hoffnung aufbauen. Liebe braucht Berührungsräume. Ob körperlich ausgedrückt, oder einfach über ein Zuhören, Anteilnehmen, Worte, Blicke, ein Lächeln.
Es gab mal ein außergewöhnliches Projekt einer Frau namens Marina Abramovic. Drei Monate lang saß sie auf einem Stuhl, um 1565 Menschen nur in die Augen zu blicken. Der berührenste Moment geschah, als sich ihr ehemaliger Lebensgefährte vor sie setzte. Mehr als 20 Jahre lang hatten sie sich nicht mehr gesehen. Wie intensiv Augen das Seelenleben eines Menschen ausdrücken, ist hier zu sehen.
Wie sehr kann ein Moment Berührung heilen, versöhnen. Wir leben davon, dass Gott uns sagt „Ich bin ein Gott, der dich sieht“. Wir dürfen als Menschen dies ebenso sagen. „Ich bin ein Mensch, der dich sieht.“ Nicht oberflächlich. Sondern mit einer Bereitschaft, wirklich zu sehen. Zu berühren und berührbar zú sein. WIr leben in einer Welt, in der Berührung zutiefst fehlt. Jeden Tag gibt es eine Gelegenheit, dies zu ändern.
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