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Spiritueller Missbrauch

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  • Beitrags-Kategorie:Allgemein
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„Wer die Wahrheit sucht, darf nicht erschrecken, wenn er sie findet.“ Chinesisches Sprichwort

Eines vorab. Es geht hier nicht um eine Anklage. Vielmehr um eine Bewusstmachung. Oftmals geschieht spiritueller Missbrauch nicht vorsätzlich bewusst verletzend. Doch es besteht auf allen Seiten dringender Handlungsbedarf. Eine ehrliche Selbsthinterfragung ist notwendig. Und der Mut, hinzuschauen.

Zunehmend bricht überall etwas auf und gerät ins Bewusstsein. Der spirituelle Missbrauch. Erst 2011 hat  eine amerikanische Psychotherapeutin den Begriff „religious trauma syndrom“ geprägt.  Der einem solchen Trauma zugrundeliegende Missbrauch wird als „geistlicher“, „religiöser“ oder „spiritueller“ Missbrauch bezeichnet. Ich werde im Weiteren den Begriff religiösen Missbrauch verwenden, geistlich, spirituell eingeschlossen. Die Folgen für ihr Leben, von denen Menschen berichten, sind dramatisch.

Und das ist kein Wunder. Bei religiösem Missbrauch wird mit der höchsten Autorität gearbeitet. Mit Gott selbst. Dahinter stehen jahrhunderalte kirchliche Strukturen mitsamt von Lehren, die in sich bereits schon missbräuchlich sind. Wie sehr wurde den Menschen gesagt, was für abgrundtiefe Sünder sie seien, wie schuldig, was es dafür alles zu tun gäbe, was man alles zu unterlassen habe, wem ganz sicher die Hölle drohe. Bis heute. Weltweit. In Deutschland braucht man sich nur Straßen-Evangelisationen anzuschauen, wie sie auf YouTube zu sehen sind. Ob Moslem, Homosexueller oder sonstwie ausgemacht „Verirrter“ oder „Verlorener“ soll bekehrt werden. Mit  perfidesten Manipulationen, wie sündig derjenige ist, dass der Himmel ohne Jesus Christus keineswegs gesichert sei, um dann „liebevoll“, festzustellen, du willst doch sicher nicht in der Hölle landen. Dazu Kommentare darunter, was für ein „segensreiches“ Tun das wäre. 

In allen nur möglichen Spierarten findet dies statt. Das macht es so schwer, religiösen Missbrauch als solchen zu erkennen. Bestimmte etablierte Lehren, Strukturen und Riten in Kirche/Freikirche etc. gelten so als normal, dass sie sich wie eine Art anerkannter Missbrauch halten können. Wer Gott ist, oder wie wir als Christen zu sein haben, liegt in der Hand einiger weniger. Sie sagen uns, wie die Bibel zu verstehen ist, bei ihnen sind unsere Sünden zu beichten, ihnen haben wir unser Geld zu geben. Und ja, das tun wir natürlich „freiwillig“. Wir wurden eingesperrt in ein Gebäude aus Angst und Schuld, Regeln und Gesetzen. Rückte zwar in der Reformation die Gnade Gottes in den Mittelpunkt, die hierarchischen Machtformen blieben. 

„Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, dann gib ihm Macht.“ Abraham Lincoln

Man darf sich fragen, welchen Nutzen religiöser Missbrauch hat. Und da stößt man wie bei jedem anderen Missbrauch auf eines. Es geht um Macht. Vom Papsttum bis zum evangelikalen Pastor zu finden. Wie erhebend mag es für einen solchen auf den so beliebten Massenevents sein, auf der Bühne Munitionsfeuer von Bibelstellen in die Menge zu rufen, begeisterte junge Menschen, die ihm an den Lippen hängen. Alle im Rausch des gemeinsamen Erlebens. Eingestimmt auf Formeln, die sich erst beim genaueren Hinschauen als zutiefst menschenverachtend erweisen. Man ist ja auf der richtigen, guten Seite. Wir, die Erretteten. Wir, die einzigen, die wissen, wo es langgeht. Das gibt eine richtig große Macht. Das macht einen auch verführerisch sehr besonders. Das wird sich gegenseitig bekräftigt. Wir sind die einzig Wahren und Guten. Und es bereitet tatsächlich auch Lust. Nicht auf sexuelle Gefügigkeiten. Sondern es ist eine Art lustvolle Macht, in den Geist der Menschen einzudringen, und sie damit unter Kontrolle und gefügig zu haben. Besonders leichte Opfer sind verunsicherte, suchende oder notleidende Menschen. 

Wie bei jedem anderen Missbrauch auch gilt eines. Er wird ungehindert fortgesetzt werden, wird er nicht offengelegt. Und es ist gut, dass zunehmend Menschen sich äußern. Denn oftmals wirkt das auferlegte oder selbst auferlegte Schweigen der Betroffenen. Aus Gefühlen von Scham, besonders wenn der religiöse Missbrauch mit sexuellem verknüpft ist, Schuld und Selbstvorwürfen, aber auch aufgrund der Angst. Bei religiösem Missbrauch ist die Angst deswegen so tief, weil es ja um die höchste Autorität geht. Manipulationen wie zum Beispiel bezüglich Satan, der Hölle, und der Androhung dessen sitzen tief, fast in jeder Zelle des Körpers. Es bestehen zudem über die Jahre massive Abhängigkeiten, dass die Angst vor Ausgrenzung und dem Gruppenverlust hinzukommt.  An den Berichten von Sektenaussteigern kann man es am besten erkennen, was dies bedeuten kann. Da gibt es angedrohte Sanktionen bis natürlich dem völligen Ausschluss und Abbruch sämtlicher Beziehungen. Mit dem Ausstieg verlieren sie alles.

„Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Joh. 8,32

Missbrauch offenzulegen kann sich gegen die Opfer richten. Hillsong Church das vielleicht im Moment populärste Thema. Da berichtet jemand, der viele Jahre darin verbracht hat von all den Machenschaften und Vertuschungen, sogar belegbar. Was geschieht? Kommmentare wie, er zerstöre die Kirche, er sei ein Verräter. Er ist nicht der einzige. Doch direkt gibt es Gegendarstellungen, die nichts besseres zu tun haben, als es in Frage zu stellen, nur weil sie selbst vielleicht andere Erfahrungen in ihrer Freikirche machen. Sorry,  wird ein Kind missbraucht, sage ich auch nicht, kann nicht sein, ich wurde es nicht. Oder man liest in einer Rezension zu einem Buch, wie es denn sein könne, dass diese Ordensfrau als Erwachsene „freiwillig“ zu diesem Priester gegangen sei. Bei Kindern könne man das ja verstehen. Wie zynisch und unwissend.

Opfer werden durch so etwas wieder zum Opfer gemacht. Das hält viele davon ab, zu sprechen. Es darf auch gut überlegt sein. Missbrauch jeglicher Art ist ein Thema, was Menschen zutiefst unangenehm berührt. Religiöser Missbrauch noch nahezu tabu. Da gibt es diejenigen, gerade in der Christenwelt, die so gerne die schöne heile Welt aufrechterhalten wollen. Da gibt es aber auch diejenigen, welche sich vielleicht inmitten eines religiösen Missbrauchs befinden oder selbst ausüben, und dies nicht wahrhaben wollen. Letzteres ist bei solchen Angriffen gegen Opfer sehr viel mehr zu vermuten. Kein Täter wird einem Kind sagen, das ihn des Missbrauchs beschuldigt, super, wunderbar, dass du endlich wagst es zu sagen. Im Gegenteil. Er wird alle Strategien auffahren, das Kind zu verunsichern, es einzuschüchtern, ihm zu drohen. Dem muss standgehalten werden. Das schafft und muss auch nicht jeder. Sind die Verletzungen und Verunsicherungen noch sehr groß, muss zwingend die eigene Heilung an erster Stelle stehen.

Eines steht fest. Schauen wir auf die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche. Es fing irgendwann mit einem Opfer an, das gesprochen hat. Es zogen immer mehr nach. Mit allen sicherlich erlebten Einschüchterungsversuchen bis hin zur Unterstellung, zu lügen. Bis es so viele waren, dass unter dem Druck der Öffentlichkeit nicht mehr weggeschaut und vertuscht werden konnte. Wie lange dann allerdings die Aufarbeitung dauerte, und wie sie bis heute nur unzureichend geschieht, zeigt nur, mit welchen Strukturen man es zu tun hat. Das wird noch viel Zeit brauchen. Das Thema religiöser Missbrauch ist umfassend und vielschichtig. Missbrauch zu beenden benötigt viele, die sprechen, und viele, die hinschauen. Wir sind alle herausgefordert. Und uns wird noch eine Menge mehr bewusst werden dürfen. Es wird ein schmerzhaftes Erkennen sein. Und es wird viel zu vergeben geben. Uns selbst, und anderen. Doch eines werden wir erfahren dürfen. Die Wahrheit macht in der Tat frei. Denn sie öffnet der Liebe die Tür.

Weiterführendes zum Thema hiemit Literaturliste

Beratungsstellen für Betroffene von spirituellen Missbrauch sind unter diesem Begriff bei Google zu finden. 

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