Diese Frage stand am Ende einer Mail. Ein Austausch über die Entwicklung der Kirche und des Christentums mit jemandem, der wie ich auf seine Weise auf die Suche gegangen ist, Fragen gestellt hat. Seine Frage berührte mich, kenne ich doch selbst so gut diese Sehnsucht nach guter, weiser Führung.
Wir sehnen uns nach einem solchen Ältesten. Nach einem, der uns, ähnlich wie Paulus damals die noch jungen Christengemeinden, spirituell an die Hand nimmt. Uns begleitet. Korrigiert. Wie eine Art Bergführer, der uns hilft, den wirklich unbequemen steilen Weg bis zum Gipfel zu finden. Oder einen Seelsorger, wie es vermutlich die frühen Mönche noch waren. Die sich nicht nur mit der Bibel beschäftigten, sondern mit allem darüber hinaus, der Psyche der Menschen, der Philosophie, den Naturwissenschaften, der Mystik. Letztere wurde ziemlich schnell „entsorgt“. Zu gefährlich, diese Menschen, die es wagten, eigene Gotteserfahrungen zu machen. Nicht gefügig genug. Noch dazu mit so viel mehr Wissen. Bis heute zu beobachten. Diejenigen, welche tatsächlich als „Älteste“ gesehen werden könnten, gelten gerne als Ketzer, oder gar Antichristen.
„Macht brauchst du nur, wenn du etwas Böses vorhast. Alles andere kannst du mit Liebe erledigen.“ Charlie Chaplin
Und da dürfen wir anders schauen lernen. Diese Ältesten stehen nicht an vorderster Front, bei denen, welche den Machtapparat Kirche aufrechterhalten, in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen. All die unheilvollen Blüten, die sich über Jahrhunderte ausgeformt haben, haben sich verselbstständigt. Da kann nicht mehr, wie früher ein Paulus als von den ersten Christen akzeptierter und in hoher Selbstverpflichtung stehender Ältester agieren. Sie waren wenige, und noch nah dran, am Geschehen um Jesus Christus.
Dann nahm die Geschichte ihren Lauf. Mit zwar auf der einen Seite wichtigem Auftrag und guten Einflüssen, ohne welche es heutige Grundwerte und vieles mehr vermutlich so nicht gäbe. Doch auf der anderen Seite haben sich teils hochgradig missbräuchliche Strukturen mitsamt unsäglichen Lehrdogmen entwickelt, die im Grunde in jedweden Konfessionen und religiösen Gemeinschaften zu finden sein können.
Diejenigen, die sich derzeit als solch Älteste profilieren wollen, unterliegen sichtlich wieder der Gefahr, ins alte Fahrwasser zu geraten. Eine nicht zu knappe Selbstverliebtheit lebt gerne vom Beifall und dem Scharen von Anhängern um sich. Macht und manipulative Einflussnahme sind nach wie vor für nicht wenige extrem verführerisch. Und da sind ganz besonders diejenigen in leitenden Positionen gefragt.
In dieser Mail erzählte mein Gegenüber auch sein Erleben mit einem Freikirchenprediger. Auf die Frage, ob man den Zehnten vom Brutto- oder Nettolohn geben müsse: „Wollt ihr den Brutto- oder Nettosegen Gottes?“. So sehen Älteste sicher nicht aus. Mehr zu dem Thema unter „Spiritueller Missbrauch„.
„Führer sollten nicht vor den Menschen stehen. Sie sollten hinter ihnen stehen.“ Sadghuru
Paulus selbst hat nie von sich als eine Art Lehrer oder Führer gesprochen. Er stand einfach als Bruder hinter den Gemeinschaften der Christen. Ein wichtiger Gesichtspunkt. Denn diejenigen, die meinen, oder suggerieren wollen, solche Ältesten zu sein, sind es ähnlich, wie ich es in all den Jahren in der spirituellen Szene gesehen habe, ganz sicher nicht. Früher sagte ich, ein echter Erleuchteter sagt nicht, dass er es ist. Ein echter Schamane ebenso nicht, dafür gab es sehr viele „Schamanen“, die glaubten, mit ein paar Seminaren einer zu sein. Ein wahrer Mystiker hat sich soweit ich weiß, ebenso selbst nie so bezeichnet. Er war es, und wurde wenn später so von anderen genannt. Mystiker halten sich sowieso im Hintergrund.
Wo sind sie dann zu finden, diese Ältesten? Im Darübernachdenken fielen mir einige ein, wie sie mir begegnet sind und was sie ausmacht. Es sind diejenigen, welche diese ganze unsägliche Entwicklung sehen. Es können welche sein, die sich aus gutem Grund relativ unsichtbar bewegen. Eher aus der mystischen Richtung kommend. Zum Teil wunderbare Perlen in Form eines Buches hervorbringen. Es können welche sein, die sich tief mit der Bibel und den Hintergründen beschäftigen, mit dem Anspruch, das hochkomplexe Wissen dahinter sehr einfach, für jeden zu vermitteln. Es sind diejenigen, die in der Lage sind, über den Tellerrand hinauszuschauen, keine Abspaltung oder Exklusivität betreiben, sondern um Verbindung und ein Verstehen bemüht sind. Ob im interreligiösen Dialog, ob im Wissen um Psychologie, Philosophie, oder Naturwissenschaften. Es können Hochstudierte oder „einfache“ Herzensmenschen sein.
Es sind diejenigen, die keinen Anspruch auf eine Führerschaft erheben, sondern Gemeinschaft auf Augenhöhe unterstützen. Die uns weder zu Geldzahlungen veranlassen noch in sonstige Abhängigkeiten bringen. Es sind diejenigen, deren Herz brennt für Aufrichtigkeit, Wahrheit und Liebe und die jederzeit lernbereit sind. Die sich nicht für etwas Besonderes halten, aber wissen, um welch kostbaren besonderen Schatz es geht. Es sind diejenigen die wissen, dass wir jederzeit gegenseitig Meister und Schüler zugleich sein können. Es sind diejenigen, die erkannt werden an hoher Selbstverpflichtung und Dienst an der Liebe selbst. Es sind diejenigen, die immer der Gnade den Vorzug geben. Die sich nicht an Gottesstelle setzen, keine Anhänger suchen, sondern uns ermutigen, uns im Zweifelsfalle an Gott selbst zu wenden.
„Der Weise ist es dadurch, dass er überall lernet – auch von der Ameise.“ Johann M. Sailer
Die Sehnsucht nach solchen Ältesten ist ein wenig wie die Sehnsucht nach einer politischen segensreichen Führung. Wir sehen, wie vieles krankt, und hoffen auf den Arzt, der heilt. Dies ist nachvollziehbar. Und doch zeigt unsere Sehnsucht nach Führung von oben auf uns selbst. Die Gesellschaft ist nicht irgendeine Masse, du und ich sind Teil davon. Kirche ist nicht das Gebäude, in dem ich still auszuharren habe. Sie lebt und atmet durch dich und mich. Will ich viel bewegen, darf ich ganz klein beginnen. Wie eine Ameise;).
Möchte ich eine Politik der Menschlichkeit, darf ich sie jeden Tag leben. Möchte ich eine Kirche mit weisen liebenden Ältesten darf ich mich auf den Weg machen, selbst weise und liebend zu werden. Möchte ich eine Kirche, die aus dem Kern der Lehre von Jesus Christus handelt, darf ich mich selbst danach ausrichten. Wir werden dabei auch heute wie Paulus „ächzen und stöhnen, und uns danach sehnen, mit dem himmlischen Haus überkleidet zu werden“ (2. Kor.5,2). Doch wir dürfen uns an die beste Führung wenden. An Gott selbst. Der uns auf vielfältigste Weise antwortet und lehrt, selbst in seinem Schweigen.
Als ich vorhin auf der Suche nach einem Foto für diesen Beitrag war, fand ich noch ein anderes. Von einem alten Obdachlosen. Für einen Moment war ich versucht, es zu nehmen. Angesichts dieses ganz anderen weisen Ältesten stand mir vor Augen, wie sehr Jesus Christus unser aller Denken auf den Kopf gestellt hat. „Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. Dieser Obdachlose wäre in der Begegnung vielleicht eine viel größere Lehre als jeder vermeintlich noch so gute spirituelle Lehrer. Weil er uns damit konfrontieren würde, ob es uns ernst ist. Mit der Nachfolge. Mit der Liebe.
Dieser „Älteste“ auf dem Foto oben nimmt sicherlich das machtvolle Gehabe des Tigers wahr. Aber es beeindruckt ihn nicht. Er schaut einfach woanders hin. Auf etwas, was ganz offensichtlich wegführend ist. Weise und klar ist der Blick, wohl ahnend, wer die Wahrheit innehat. Vielleicht wissend um eine Zusage.
Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, dann bittet um alles, was ihr wollt, und es wird euch zuteil werden. (Joh 14,13).
Darauf dürfen wir vertrauen. Die wesentlichen drei Dinge die da bleiben sind Glaube, Hoffnung und Liebe. In der größten unter ihnen, der Liebe dürfen wir uns jederzeit üben. Die Selbstliebe dabei nicht vergessen;).