Aus Pinchas Lapide „Die Bergpredigt – Utopie oder Programm?”

Die Entfeindungsliebe

Mit Recht stellt daher Leonhard Ragaz die Frage nach der Erfüllbarkeit: »Ist das nicht zuviel
verlangt? Kann man die lieben, die uns hassen und uns Böses antun? … Ist das nicht sittliche
Utopie? Ist das nicht eine Illusion?«
Die Antwort, die erst bei der Rückübersetzung ins Hebräische zutage tritt, verneint diese Fragen,
indem sie deutlich besagt: Hier wird weder Sympathie noch Gefühlsduselei, Rührseligkeit oder
gar Selbstaufgabe gefordert, denn weder Gefühle noch das Martyrium können befohlen werden,
sondern einzig und allein »das Tun« – eine der häufigsten Vokabeln im jesuanischen
Sprachschatz. Und in der Tat steht im Gebot der Nächstenliebe, das Jesus hier zitiert (Lev
19,18) nicht. »Liebe deinen Nächsten« im Akkusativ, sondern im Dativus Ethicus, eine
Wortfolge, die im Deutschen nur umschrieben werden kann. Wende dich ihm liebend zu! Oder:
Erweise ihm Liebestaten! Oder: Tu ihm Liebe an! Mit einem Wort: Leb ihm zuliebe, nicht
zuleid!
Da Jesus weder ein Schwärmer war noch ein Utopist, wohl aber ein welterfahrener
Menschenkenner, verlangt er keine übermenschliche Selbstlosigkeit, keine Empfindungen, die
so gut wie jedes Menschenherz überfordern müßten, sondern praktische Liebeserweise, wie
etwa: Krankenbesuche, das heimliche Geben von Almosen, Beistand in der Not, das Trösten der
Trauernden, Brotteilen mit den Hungrigen, und all die 1001 wirksamen Wohltätigkeiten, die
Vertrauen schaffen, Feindschaft abbauen und die Liebe fördern.
Da Jesus in parallelen Kontrastpaaren und in rhetorischen Antithesen zu predigen liebte, muß
daher auch die Steigerung: »Liebet eure Feinde!« im ursprünglichen semitischen Wortlaut mit
demselben Dativus Ethicus formuliert gewesen sein, der keineswegs zur platonischen
Feindesliebe oder gar zur heuchlerischen, zur-Schau-gestellten Scheinliebe auffordert, sondern
ein Aufruf ist zum versöhnlichen Umgang mit dem Gegner, der letzten Endes seine Entfeindung
bezweckt.
Das deutet Jesus auch dadurch an, daß er den Gegner nicht »Feind« nennt, sondern »Hasser«,
wie die lukanische Parallele (Lk 6,27) nahelegt. Der Unterschied ist für die Hellhörigen
beträchtlich. Während nämlich der Begriff »Feind« in allen Sprachen eine Art von
»Vollzeitbeschäftigung« andeutet, schwingt im substantiell gebrauchten Zeitwort »Hasser« die
Zeitweiligkeit unüberhörbar mit. Denn ein Hasser ist ein Mensch, der dich gestern gehaßt hat,
und heute noch immer haßt; der es aber morgen keineswegs tun muß – wenn du nur den Weg zu
seinem Herzen findest.
Feindesliebe, jesuanisch verstanden, heißt also viel mehr als gute Miene zu bösem Spiel zu
machen, indem man den Feind erträgt oder ihn sich durch Höflichkeiten vom Leibe hält,
sondern es geht um ein redliches Sich-Bemühen, ein Werben und ein Ringen um den anderen,
auf daß er sich ändere, seinen Haß aufgebe und zum Bruder werde. Kurzum – eine Theopolitik
der kleinen Liebesschritte, die darauf zielt, daß der Feind aufhört, dein Feind zu sein, was auch
für das Beten für die eigenen Verfolger gilt …
Für die Glaubenshelden – im Judentum und anderswo -, die es fertig brachten, für ihre
Verfolger, Feinde, ja sogar für ihre Folterer zu beten, möge Leszek Kolakoswki, der polnische
Philosoph, das Wort ergreifen: »Die religiöse Überlieferung, zumindest in unserem Kulturkreis,
verlangt mehr als die bloße Forderung, auf Haß zu verzichten: Wir sollten überdies unseren
Verfolgern Gutes erweisen, für unsere Feinde beten. Muß so ein naturvergewaltigender
Anspruch als allgemein bindend gelten? Darauf kann man nur das Banalste sagen: Daß es nur

sehr wenige gibt und je geben wird, die dieser Aufforderung wirklich gewachsen sind, ist sicher;
auf den Schultern dieser Wenigen beruht aber das Gebäude unserer Zivilisation, und das
Geringe, wozu wir fähig sind, verdanken wir ihnen.«
Herr Kolakowski irrt jedoch, falls er meint, Jesu Forderungen auf Haß-Verzicht und
Feindesliebe entstammen lediglich seiner Selbstverleugnung, die nur das Wohl des
Widersachers im Auge hat. Worum es hier eigentlich geht, ist ein doppelter Brückenschlag:
zwischen unserer Gewaltswelt und dem Himmelreich auf Erden einerseits; und zwischen
legitimem Egoismus und erleuchtetem Altruismus andererseits.
Daß es dem Nazarener keineswegs um schwärmerische Selbstaufgabe gehen kann, die der
biblischen Menschenwürde und dem Ethos der Schrift widersprächen, sondern um eine
gegenseitige Entfeindung durch tatkräftige Versöhnung, die sowohl dem Hasser als auch dem
Gehaßten zugute kommen soll, bezeugen die beiden konkreten Beispiele, die Jesus zur
Verdeutlichung seiner Absicht bringt. Doch vorerst müssen der politische Hintergrund und das
menschliche Klima jener Zeit umrissen werden, in der Jesus das Licht der Welt erblickte.